Die Mission

Ilmenau, Herbst 2002. Es regnete, aber der Briefkasten war wasserdicht. Und ordentlich befüllt.
Also die Post geholt. Ein Brief enthielt sogar etwas. So ein Reklame-Gimmick? Nein. Es war schwer, sicher etwas Metall. Von? Niemand. Kein Absender auf dem Brief. Aber seine Adresse, sein vollständiger Name. Maschinell gedruckt. Ab in die Wohnung. Das zerreißende Papier gab einen Papierschnipsel frei, dünnes Papier, klein, bedruckt und einen Schlüssel. Auf dem Schlüssel stand: 13 – 304956. Auf dem Schnipsel: "Poststr. 13, PF13"
Frühstück, schling. Schnipsel, Schlüssel, Geldbeutel, Rucksack. Aufs Rad, los geht’s.
Sein Feldzug hatte ihn in einen kaum genutzten Postfachraum geführt, das Fach enthielt eine schwere Schachtel und einen leichten Brief, den er erst Zuhause nach Anleitung auf dem Umschlag (die sich im Brief sogleich wiederholte) zuerst öffnete:
Dem Leser sei es frei gestellt, analog unserem Helden, diesen unnötig ins technische ausartenden Schrieb nach Gutdünken ausreichend zu überfliegen.


"Bitte lesen Sie diesen Brief ganz durch, bevor sie die beigelegte Schachtel öffnen!

Wir, die es vorziehen, unsere Namen lieber nicht zu nennen, möchten ihnen eine einmalige Chance anbieten. Zusätzlich zu den in diesem Brief enthaltenen EUR 500.- bieten wir ihnen EUR 5.000.-, wenn sie die ihnen angebotene Aufgabe erfüllen. Warum bieten wir das ihnen an? Weil wir glauben, das sie für diese Aufgabe qualifiziert sind. Und sie sind als Außenstehender besonders geeignet! So können sie die Aufgabe risikolos und effizient durchführen. Dass ist ihre Chance:

Ihre Aufgabe: Töten sie "Nicole".

Sie bestimmen wann, sie haben einen Zeitrahmen von zwei Wochen; bis einschließlich 24.9.02. Sie werden entlohnt, sobald sie ihre Leistung erbracht haben.

Nicole heißt nicht wirklich so, ist 24 Jahre alt, 173cm groß, schlank, hat schulterlanges, schwarzes Haar. Ihre Schuhgröße beträgt in etwa 39. Sie finden Nicole nach obiger Beschreibung, eindeutiger Zeit und Ort:
Die Mümmelmannstaler-Straße unterquert die Schnellstraße 151. Auf einer Seite der Unterführung biegt die Strasse ab. Dort von der gegenüber der Kurve liegenden Böschung, die mit einer Mauer untersetzt ist, hat man ein gutes Blickfeld auf den angrenzenden, selten benutzten Fußweg. Am geeignetsten ist der Heimweg der Person; Di-So direkt nach 21:15 kommt sie zuverlässig dann auf dem schmalen Gehweg unter der Brücke heraus und geht an der Böschung entlang. Die Strasse ist beleuchtet. Auf der Böschung ist es dagegen fast vollkommen dunkel. Genug Zeit zur Augengewöhnung ist hier sinnvoll, dennoch sollte Nähe zur Strasse gehalten werden, um vom Licht noch zu profitieren.
Wenn sie nicht von ihrer Risikofreiheit überzeugt sind, können sie den Ort durchaus besuchen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, sind sie ja noch keinem irgend gearteten Risiko ausgesetzt. Allerdings keinesfalls unnötig häufig, solange sie die Aufgabe sicher vollziehen wollen.

Machen sie sich mit der Waffe vertraut. Die 38er Frunsenhuber befindet sich in der beigelegten Schachtel, mit der sie uns nachher zu ihrer Sicherheit auch alle beweislastigen Gegenstände zurückgeben können, sofern diese nicht zu groß geraten!
Sie können nicht üben, aber das ist nicht notwendig. Sie brauchen sie keine Sorgen zu machen, mit der beiliegenden Pistole können auch vollkommen ungeübte Schützen eine Person auf 10 Metern problemlos treffen, (wahrscheinlich entgegen ihrer Fernseherfahrung...) wenn sie sich an diese Anweisungen halten.
Bis zur endgültigen Durchführung sollten sie sich die Waffe genau ansehen, begreifen, aber niemals laden! Sie können jedoch schon ein Gefühl für das Gewicht und die Mechanik kriegen.

Zum Üben:
1. Entsichern: Auf der Rechten Seite befindet sich ein Hebel, er verriegelt die Waffenaktion. Stellen sie ihn auf den roten Markierungskreis.
2. Zielen: Halten sie die Waffe mit beiden Händen, um sie ruhiger zu halten. Sehen sie so durch die Einkerbung (in der "Kimme") auf der Oberseite, dass sie durch die Mitte der Kerbe auf der Höhe dar oberen Ecken der Kerbe blicken. Drehen sie die Waffe, bis die vordere Spitze genau in der Mitte der Kerbe liegt, und der obere Rand der Kimme gleichauf mit dem der Spitze ist. Wenn sie feuern, treffen sie nun direkt auf den Punkt, der direkt oberhalb der Spitze liegt.
3. Feuern: Ziehen sie langsam am Abzug. Er ist erst schwergängig, solange er die Waffe spannt. Sobald er nachgibt, noch ein Stück, dann schnappt es, und sie haben den Auslösepunkt gefunden. Prägen sie sich das Fingergefühl ein, um zuverlässig, ruhig und gezielt Auslösen zu können.
4. Sichern: Schieben sie den Sicherungshebel wieder vom Kreis weg.

Wenn sie sicher sind, dass sie ihre Aufgabe wahrnehmen wollen:
1. Laden: Halten sie die Pistole am Griff fest. Greifen sie mit der anderen Hand den Schlitten (das obere Teil der Pistole) an den geriffelten Griffstellen, und ziehen sie ihn kräftig nach hinten. Wenn er ganz am harten Anschlag ist, lassen sie ihn angefasst zurückgleiten. Jetzt befindet sich eine Patrone in der Kammer.
2. Entsichern, Zielen, Feuern wie oben. Wenn sie einen Schuss abgegeben haben, ist die Waffe wieder geladen (Automatik), solange, bis das Magazin leer ist, in dem sich 20 Schuss befinden. Sie erkennen dies außerdem daran, dass der Schlitten in der hinteren Position verbleibt.

Laden sie die Pistole erst, wenn sie ganz sicher sind! Sollten sie aus irgendwelchen Gründen dennoch die Pistole entladen wollen, oder wenn sie fertig sind:

Entladen:
1. Sichern, siehe oben.
2. Magazin entnehmen: Drücken sie den Knopf unten am Griff. Achtung: das Magazin fällt heraus. Die Pistole ist weiterhin geladen!
3. Entladen: Ziehen sie den Schlitten wie zum Laden nach hinten. Aus dem Auswurf ("Fenster" im Schlitten) schnappt die Patrone heraus. Der Schlitten kann mit dem Entriegelungsknopf (Rechte Seite, neben dem Sicherungshebel) veranlasst werden, wieder in die Ausgangsposition zu springen.
4. Magazinieren: Nehmen sie die Patrone, und halten Sie sie über die Oberste im Magazin, mit der selben Orientierung. Fassen Sie sie nur mit den vordersten Fingerspitzen an, um keinen unnötigen Abdruck darauf zu hinterlassen, die Hülse könnte unter ungünstigen Umständen als Beweisstück zurückbleiben. Drücken sie die Patrone hinein, bis sie so einrastet, wie ihr Nachfolger lag.
5. Setzen sie das Magazin wieder ein, und drücken sie es hinein, bis es einrastet.

Um sicherzustellen, das Sie ihr Ziel zuverlässig töten, (und wenig Aufmerksamkeit erzeugen) beachten sie: Sie sind kein Profi. Sie sollten ihren ersten Schuss aus sicherer Entfernung abgeben. Sie können sich aber nicht auf eine tödliche Wirkung verlassen! Um sicher zu treffen, zielen sie auf die Körpermitte, um Oberkörper oder Unterleib zu treffen. Ein Treffer von Armen oder Beinen verhindert nicht unbedingt die Flucht! Da sie keine Erfahrung haben, rechnen sie damit, zu erschrecken, wenn sie zum erstenmal einen Schuss abgeben! Da sie wahrscheinlich nicht sicher sind, wo sie getroffen haben, und mit welchem Erfolg, sollten sie dann so nahe herangehen, um zuverlässig die Brust in der Oberkörpermitte zu treffen. Aus psychologischen Gründen jedoch stets soviel Entfernung wie noch vertretbar halten, und nicht auf Kopf bzw. Gesicht schießen. Der zweite Schuss sollte also sicher sein. Wenn sie jedoch nicht sicher sind, wiederholen Sie; aber auf keinen Fall mehrere Schüsse in Folge abgeben, es sei denn, das Ziel flüchtet!
Nach der Durchführung sammeln sie alle Patronenhülsen auf, die sie finden können, im besten Fall alle, falls sie sich weiterhin in Sicherheit wähnen.

Wenn sie erfolgreich waren, oder den Auftrag aufgeben wollen, geben sie die Waffe, und die gesammelten Hülsen in den Originalumschlag hinein, und legen Sie sie einfach in das Schließfach zurück. Sie sind dann alle Sorgen los. Im Falle der korrekten Durchführung können sie nach 4 Tagen den Umschlag mit der Entlohnung abholen, in gemischten Scheinen.

Schon jetzt vielen Dank für ihre Mitarbeit, wir wünschen ihnen viel Erfolg!"



Die 500 lagen tatsächlich bei; und er tat, was ihm aufgetragen wurde, und ward ein gewissensarmer, dafür bald geldreicher Student.

Ganz so einfach war es natürlich nicht: Es sollte ihn viermal zum Tatort ziehen, wobei der geneigte Leser für den vierten Besuch auf die Fortsetzung warten darf. Nachdem er, im einsamen Hamburg angekommen, sich einige Tage in Gedanken gewälzt hatte, und zwischen "kranken Wahnsinn" bei "durchaus eine Chance" gependelt war, setzte er "Testweise, neutral, alle Ablehnung vorbehaltend"(so hatte er es sich definiert) zur ersten Aktion an. Er fuhr stets mit der U-Bahn, und ging den Rest zu Fuß. Das erste Mal erreichte er den Ort am Nachmittag. Er hatte die Waffe zu Hause gelassen. Er sah sich den Hang an, der war begrast und verwildert mit Büschen und Bäumen besetzt. Auf dem Boden bildete sich um die Büsche eine Schicht aus modderigem Laub. Er besah sich die Unterführung, die Mauer. Es war alles wie im Brief. Das ließ ihn etwas Erschaudern: Zum einen wirkte es so perfekt, so einfach, die Informationen waren so vertrauensvoll. Zum anderen kam ihm der Brief jetzt ein wenig wie eine Vorahnung vor, die sich in dieser Umgebung zum Teil bereits manifestiert hatte. Er bohrte mit seinen Schuhspitzen im Modder. Der rottenden Blätter waren weich... Er achtete sorgsam auf seine Umwelt. Auf dem Weg hierher gab es einige Leute, da war er sicher nicht besonders aufgefallen, also waren noch alle Möglichkeiten offen. Und hier war wirklich niemand. Außer den sehr gelegentlichen PKW, die unten auf der Straße in die Unterführung, und aus ihr heraus kurvten. Er fuhr nach Hause.
In der Bahn besänftigte er sich; er hatte ja nichts getan! Dennoch war er nicht mehr wie vorher. Denn der Brief hätte längst bei der Polizei liegen müssen. Er spielte viele komplexe Moralsysteme in Gedanken durch, zu denen er bisher zu faul war, die jetzt vielleicht sinnvoll anwendbar wären. Jede Station hakte er eins ab, bald schon stieg er aus.

Zuhause aß er etwas, kontrollierte dabei exakt die Uhr, packte Uni-Sachen und die Waffe in ihrem Umschlag, den er gelocht hatte, in einen Ordner in den Rucksack. Es dämmerte. Fast Winter. Als er abermals den Weg zum Tatort abschritt, war alles ganz anders. Es war dunkel, der Fußweg lag im fahlen Natriumlicht. Es war kalt. Den ersten Teil des Hanges stolperte er hinauf, bis sich seine Augen langsam gewöhnten. Es war windstill und leise; so leise, das er das Summen der fernen Straßenbeleuchtung wahrnahm. Er zog die Waffe aus dem Rucksack, legte sich diesen wieder an, und steckte sie in seinen Hosenbund. Er prüfte die Sicherung. Er zog die Waffe wieder heraus, entsicherte, zielte rasch auf die Laterne, drückte ab. Klick. Nur mühsam konnte er die Waffe halten, als ihm der Schreck durch die Glieder fuhr. Er hatte so schnell gehandelt, dass er jetzt überrascht war, das sie nicht geladen war. Natürlich war sie das nicht. Aber er würde das immer mehrmals sicherstellen, dachte er. Nun hatte er sich überwunden. So könnte es klappen! Keine Zeit zum Denken, lässt keine Zeit zum zögern. Ein gutes Konzept! Auf den Schreck folgte so Euphorie; er illuminierte seine Uhr, noch drei Minuten, blendete sie ihn. Gut, dass er das jetzt getan hatte; es würde diese Minuten brauchen, um wieder alle Nachtsicht zurückzugewinnen. Er ging die Böschung hinauf, drängte sich vor den Busch, der ganz oben stand, direkt an der Schnellstraße. Die Mauer ragte noch 20cm über den Boden hinweg. Er sah senkrecht in die Unterführung ein. Wenn sie jetzt kommt, sieht er auf sie. Sie müsste schon senkrecht empor sehen, und er lag im dunkeln. Besser ging es nicht. Er müsste dann folgen, bis sie um die Ecke gebogen ist... Dann hätte er sicher 20 Meter Chance, und sie keine mehr. Er riss sich selbst aus den Gedanken... wie lange noch? Wie exakt war der Zeitplan? Er stand nervös in der Kälte, wechselte unzählige Male Stand- und Spielbein, drehte ein wenig hin und her. Irgendwann war er sicher, die Zeit währe durch. Jetzt kann es dauern, aber auch jeden Moment passieren... Hin und wieder zuckte es kurz in ihm auf: Entsichern und gleich durchziehen? Doch schnell verblasste dieser Gedanke wieder. Es jetzt nicht zu tun, oder nie, dass war ja eine Chance, die ihm kaum Nachteile brachte. Dann kam sie. Er verlor jeden Verstand, wie in Trance durchlief sie sein Sichtfeld, perfektionistisch schlich er an der Böschung hinab; als sie aus der Kurve trat, hatte er sie bereits auf dem Korn, obwohl sie hinter der Mauer verborgen war... dann näherte er sich der Gerade, präzise hielt er sie im Visier. Ihr Rücken leuchtete kurz auf, als ein Auto von der hinter ihnen liegenden Straße in die Unterführung einbog. Er ignorierte das souverän. Erst nach 30 Metern ließ er sich zurückfallen... Und vertat sich seitlich in die Büsche.
Er brauchte Minuten, bis er überhaupt wieder die Waffe wahrnahm. Sie war wie mit seiner Hand verschmolzen gewesen; schon so lange darin, das sie Körpertemperatur hatte. Er zog den Abzug, Klick. Er überlegte. Wie oft hatte er es eben getan? Nicht sehr oft. Dreimal vielleicht. Hatte er richtig gezielt? Ja. Und sie konnte ihn nicht sehen. Nicht hören. Und noch etwas viel ihm ein: Er hatte ihr Gesicht nicht mal gesehen. Das war sehr gut so. Selbst das Auto machte ihm keine Angst. Zu weit entfernt, von ihm aus keine Sichtlinie. Und das es überhaupt kam, war schon ungünstigster Zufall. Je mehr er nachdachte, um so euphorischer wurde er. Es war so leicht... Er war tatsächlich qualifiziert!
Und dann wurde es noch perfekter: Die Waffe, wieder gesichert, tat er in ihre Box. Die Box in den Umschlag. Den Umschlag in eine Plastiktüte; die Tüte unter den Modder. Beziehungsweise das nasse Laub. An einer allen Menschen gewöhnlicher, ihm jetzt perfekt eingeprägter Stelle. Hier war das Laub feucht, aber es war sauber. Und Plastiktüten zierten die Landschaft ebenso gewöhnlich wie Dosen. Geschafft.
Als er auf den Anfängen des U-Bahnhofs drei Personen passiert hatte, hatte die Gesellschaft ihn wieder. Wieder einer von vielen. Kein Risiko mehr.
Doch die Bahnfahrt brachte bald Ernüchterung: Eine Station vor seinem Ziel meinte er, Sie unter den Aussteigenden gesehen zu haben! Erst Minuten später realisierte er, das sie eine andere Jacke trug. Er hatte sich bereits von einem Sekundenblick ihrer scheinbarer Figur irritieren lassen. Er war erleichtert, doch gleichsam aufs neue erschreckt, zwar hatte er sie nicht gesehen, und wenn würde es doch auch überhaupt keine Rolle spielen, mit welcher Bahn sie fahren würde, da sie ja danach eh nicht mehr fahren würde. Aber dieser Flash, diese Falschmeldung an sich machte ihm Angst. Wäre alles OK, hätte er ja auch logischerweise solche Paranoia nicht nötig. Er stellte das aber schnell klar, natürlich war es ungeheuerlich, was er da vorhatte. Da war außergewöhnliche Anspannung natürlich vollkommen legitim.

Am nächsten Tag sollte es nun soweit sein. Es wurde ein langes; verlustreiches Gefecht. Während seines Alltags begriff er, dass sein Versuch gleichzeitig notwendig wie auch ein Übel war. Ein ständig brodelndes Gemisch aus Zweifeln musste er mit der Euphorie des letzten Tages, seines perfekten Vize-Waffenganges hinwegfegen. Am schwersten waren jedoch jene, die er durch den Versuch erst gerufen hatte: Keine bestimmten Gedanken über Gut und Schlecht, über Geld und das Recht und Gesetz. Statt dessen Gefühle, geheftet an Momentaufnahmen, die sich photografisch in seinem Hirn verewigt hatten: Der Busch, unter dem nur er die Waffe liegen wusste. Ihr leuchtender Rücken mit einem unscharfen Vordergrund aus glänzendem Metall. Der erste Kontakt, in dieser verdammt ungewohnte Perspektive des rüttelnden Greifes.
Dafür bekam er ja auch was. Er war wie im Fernsehen, er war sogar echt. Er war hoch qualifiziert. Das hatte er ja bewiesen. Es konnte nichts mehr schief gehen.
Verständlich, das er von jenem Tag außer dem bereits genannten wieder nur den Abend erinnerte. Er stand rechtzeitig in der Böschung. Er erkannte, das Zehn Minuten vor Punkt Null erheblich zu früh war. Er sah oft auf die Uhr. Aber er hatte den Fehler erkannt, und es machte nichts, außer dass er etwas auskühlte. Und so ging er gestärkt aus dieser Panne hervor. Diesen Tag sollte auch kein Auto kommen. Und er nutzte die ersten Warteminuten, um sich aufzumuntern. Er könnte es einfach sein lassen. Gut. Die Waffe war nicht mal in seinem Haus mehr gewesen. Gut. Er würde sich nicht mehr mit der Uhr blenden. Gut. Auf den weniger begangenen Wegen war niemand gewesen. Gut. Es war erst ein Auto gekommen, und da steckte er mitten im Busch. Sehr gut. Er würde, obwohl als unnötig versprochen, alle Fingerabdrücke von der Waffe entfernen. Perfekt.
Das war das Startzeichen. Er entsicherte. Der Hebel schnappte ein. Er schüttelte sich kurz, aber ging gestärkt daraus hervor. Dann überkam ihn ein taubes Gefühl; wie er es beim letzten Waffengang auch hatte. Nur jetzt schon beim Warten...

Eine braune Kugel blitzte in sein Sichtfeld ein. Mit zwei Schultern daran. Erschreckt erwachte er; heiß kam es in ihm hoch. Die Sekunden bis zur Gerade dauerten ewig. Er wartete auf die Trance, doch da war perfekte Aufmerksamkeit. Jetzt konnte er sein Handeln sogar beobachten, und dennoch lief es genauso wie beim letzten Mal ab. Nur der Zeigefinger blieb starr. Während die Aktion auf einen weiteren Versuch hinsteuerte, war er innerlich absolut überzeugt, zu handeln! Bei Meter 11 überkam ihn ein Gefühl absoluter Ohnmacht. Sein Arm senkte sich, die Waffe nicht mehr im Blickfeld löste seine Blockade: Klick. Der Rückstoß donnerte bis in seine Schulter, er erschrak furchtbar, obwohl der Knall viel leiser als in seinen Annahmen war. Verdammt! Vom Adrenalinstoß profitierend, riss er den Arm sofort empor. Er war nicht sicher, ob er das Bild seiner Erinnerung, oder die Realität vor seinen Augen sah, noch in der Bewegung hatte er den Druckpunkt erreicht, es warf ihn zurück; er stolperte einen Schritt. Während er feststellte, das er jetzt auch von der Mündungsflamme geblendet war, er hatte kaum gesehen, welchen Erfolg er hatte; ihre Silhouette war offensichtlich Richtung Mauer entschwunden; und damit aus seinem Sichtfeld. Noch während er einige Meter seitlich hechtete, um die Sicht zurückzugewinnen, reihte er sich die Möglichkeiten auf. Er hatte nicht getroffen: Unmöglich; sie flüchtet an der Mauer entlang; sie ist tot. Noch bevor er den Abgrund erreichte sah er sie wieder! Sie schien in sein Sichtfeld zurückzuschreiten... Er hatte sicher getroffen. Jetzt stand er auf der Mauer. Sie fiel dagegen, blieb angelehnt stehen. Sie sah panisch über ihre Schulter, auf die hinter ihr liegende Straße. Er starrte gebannt auf ihren Hinterkopf, an die Stelle, wo eben kurz ihr Gesicht war. Dann dankte er Gott, das er soweit entfernt stand. Doch das half ihm nichts: Gerade weil er es nur wage erkannte, schien ihn das Gesicht förmlich gerufen zu haben. Jetzt war es wieder weg, er musste näher heran. Krampfhaft versuchte er sich abzulenken, an den Brief zu denken. Zweiter Schuss in die Brust. Doch die war ihm abgewandt. Verdammt, dachte er. Ging nicht. Er war fertig. Er trat wieder zurück. Aus den Augen, aus dem Sinn. Er sah auf die Waffe. Auswurf rechts. Er sah auf den Boden; wo? Da. Messing, glänzend. Gut. Vorsichtig bückte er sich nach der leeren Hülse. Er fasste sie wie eine teure Münze, er achtete darauf, den Boden nicht zu berühren. Jetzt vielem ihm seine Schuhe ein! Was ein Glück, billige Sporttreter. Hatte jeder. Doch warum hatte er erst jetzt daran gedacht? Rasch die zweite Hülse gesammelt. Die Hülsen in der Rechten, die Kanone in der Linken. Während er die Böschung hinauftrottete ging es in seinem Kopf zuende: Kanone in Box, Hülsen in Box. Box in Umschlag, Umschlag in Ordner, Ordner in Rucksack, Fertig. Er drückt den Knopf, die Uhr blendet, nächste erreichbare U-Bahn in 17 Minuten. Dann schnell los. Doch so ging es nicht.

Alles, was er jetzt tun wollte, brächte die Sache nach Plan zu Ende. Doch mittendrin gab es eine Lücke! War sie tot? Sein Blick schweifte den Mauergrat entlang. Er konnte nicht mal die Stelle schätzen, wo sie liegen müsste. Er sah auf die Stelle, wo er vor weniger als einer Minute abgedrückt hatte. Sein Verstand kam zurück. Du hast es getan!, dachte er. Jetzt musst du die Konsequenzen ziehen! Geh einfach noch einmal zur Mauer. Vielleicht ist es vollbracht? Er zitterte am ganzen Körper. War ja auch scheißkalt, sagte er sich später. Er erreichte die Mauer. Doch er sah nur geradeaus in die Nacht. Guck jetzt nach rechts! Mühsam tat er es. Und er erkannte: Es war noch nicht vollbracht.
"Scheiße!" blieb ihm im Halse stecken. Er hasste sich dafür, hasste sich jetzt allgemein. Es war wenigstens ein Zeichen, das er bei normalem Verstand war. Das machte es aber auch nicht besser. Er balancierte die Mauer entlang, versuchte sich zu erinnern, wie er als Kind dass getan hatte. Doch mit jedem Schritt, jedem näheren Blick verdrängte ein aggressives Wummern in seinem Kopf mehr und mehr jede Ablenkung. Jetzt war die Taubheit auch wieder da....er konnte nur noch zusehen.

Ihre Augen schweiften am Horizont entlang. Rechts verloren sich die Natriumdampflampen der Schnellstraße in der Ferne, im sanften Leuchtschleier der Stadt. Zu der Linken wenige, ferne, aber grelle Lichter der Baracken an der Industriebahn. Noch weit die differenzierten Rasterflächen der illuminierten Wohnblocks. Der Split knirschte unter ihren Füßen, vor wenigen Tagen hörte sie noch Grashüpfer. Sie ging hier jeden Tag, so fiel es ihr auf, das auch die letzten Insekten verstummt waren. Daran machte sie den Herbstanfang fest. Bei beinah winterlicher Kälte. Plötzlich hörte sie einen seltsamen Knall. Sie zuckte furchtbar zusammen, denn es klang nicht wie fernes Grollen.; es war nah!
Innerlich erleichtert, das sie wohl nicht davon betroffen war, drehte sie noch reflexartig herum, nach der Ursache suchend, da knallte es schon wieder. Die Quelle im Blick sah sie nur Dunkelheit, dafür hatte sie einen heftigen Stoß gespürt. Sie stöhnte kurz irritiert "He?", schloss den Mund wieder, einen Zuhörer vermissend. Dann folgte Schmerz "Ok", dachte sie leise, jetzt ist mir was passiert. Dann realisierte sie, dass dies in der Tat eine äußerst außergewöhnliche Situation war; und die Schmerzen nahmen ihr den Verstand, dem weiter nachzugehen. Ihr Bauch tat furchtbar weh! Der Schmerz konzentrierte sich derartig, das sie sonst immer weniger zu spüren schien. Unterhalb des Schmerzes schien alles so überstrahlt, das ihr ihre Beine fast taub vorkamen. Entsprechend schwer fiel ihr das Stehen. Intuitiv ging sie erst mal auf die Mauer zu, sie ragte so schützend empor. Dann musste sie wieder ein Stück zurück wanken, nur um das Gleichgewicht zu behalten. "Ok.", dachte sie, auf die Füße konzentrieren. Nur noch ein Schritt.. Es wahren ein paar mehr, und so rempelte sie hart gegen die Mauer.
Den Aufprall hatte sie trotzdem kaum gespürt. Denn da war immer noch dieser alles überragende Schmerz. Ihm wieder die Aufmerksamkeit zu widmen, war nicht gut. Sie lehnte nun an der Mauer, und in ihrer Vorstellung sank sie bereits entspannend daran herunter. Doch die Mauer war zu rau. Trotz des Schmerzes kam jetzt endlich ein Gedanke: Jemand. Hier gab es noch jemanden, den Täter! War er noch hier? Natürlich. Es war ja erst ein paar Sekunden her. Obwohl sie die ganze Zeit erst auf die Mauer und dann ihre Füße geblickt hatte, sah sie erst jetzt wieder bewusst hin. Um sich umzusehen. Doch das tat sie nicht lang. Denn da, wo der Schmerz war, war auch Blut. "Oh, Gott!" stöhnte sie; den Kopf in den Nacken fallen lassend, den Blick abwendend. Der Täter war jetzt nicht mehr wichtig; sie selbst war jetzt wichtig! Übermannt von Angst um sich kippte sie an der Mauer herunter. Widersprüchlich, fiel ihr noch dazu ein.

Er hatte doch keine Ahnung! Während er unbewusst weiterstarrte, versuchte er die Taubheit mit Gedanken zu durchbrechen. Einfachen. Da hinten im Licht hatte sich was bewegt. Ok. Er hatte keine Ahnung. Geht es jetzt zuende? Woher sollte er, verdammt noch mal, dass wissen? Währe es Verrat am Auftraggeber, oder nur an ihr? Und einfach zu gehen, dass hatte er ja gerade eben schon einmal aufgegeben? "Die Konsequenzen", dachte er. Er sah wieder bewusst, und die Taubheit war sofort zurück.
Er war schon zu nah. Er sah Blut. Er würde noch mehr vom Gesicht sehen müssen. Dann schloss er die Augen. Er hörte das donnernde Pochen in seinem Kopf. Er hörte genau hin. Bumm. Bumm. Da, eine Idee: Versagen? Niemals! Das brachte Zorn. Der war gut. Damit atmete er tief ein, schrie selbsteinpeitschend "HA!" und warf sich von der Mauer.
Doch die Augen hatte er zum Landen jäh wieder geöffnet; das "HA!" war ihm im viel zu trockenen Hals steckengeblieben, es war nur ein "ha." geblieben. Dennoch schritt er streng voran. Sah auf den Gehweg. Sein Ziel bekam nur den oberen Rand seines Gesichtsfeldes zugestanden. So kam er zuverlässig heran. Näher und näher. Und musste immer steiler herunterblicken. Als er schon ausweichend nach links zu den Lampen der Baracken sah, legte er seinen Finger wieder auf den feuchten, noch warmen Abzug. Er zielte irgendwo in der unscharfen Peripherie seines Gesichtsfeldes. Das Glück müsste ihm jetzt noch mal beistehen. Doch der Zeigefinger war irgendwie taub geblieben. Er versuchte, das Zittern des Fingers auszunutzen. Doch je mehr der zitterte, desto überzeugter wollte er auch nicht drücken. Auf der Mauer hatte es doch richtig geruckt, jetzt musste er sich eben noch mal diesen Kick geben. Er hob seinen Arm weiter an, um ihn in eine Linie mit seinem simultan einschwenkenden Blick zu bringen. Auge in Auge. Doch da war kein "HA!" mehr. Und jetzt sah er alles...

Da rief jemand. Der Täter? Egal. Aber sie brauchte doch Hilfe. Also nicht egal. Schmerz. Schritte. Hatte jemand "ha." gerufen? Ruft man "ha.", wenn man jemanden am Boden entdeckt? Nein. Jemand nicht. Es war der Täter. Irgendwie wollte sie jemand sehen. Sie löste eine ihrer Hände aus dem blutigen Knäuel, den sie auf ihren Bauch presste, stützte sich darauf, und drehte ihren Oberkörper weit genug herum, um in Rückwegrichtung blicken zu können. Die Bewegung holte den Schmerz wieder vollständig zurück, aber sie fasste sich, um den Blick zu etablieren. Umsonst. Sie hatte auf ein Gesicht gehofft. Das hatte jemand natürlich auch, aber es blickte zur Seite. Sie sah nur auf ein Ohr. Das aber stand über einer glänzenden Pistole. Erstarrt sah sie die schwarze Bohrung an deren Vorderseite an. Die war irgendwo weiter unten auf sie gerichtet. Dahin, wo es schon so weh tat. Tränen begannen, ihre Sicht aufzuweichen. Sie ließ nicht ab. Aber es passierte gar nichts. Die Reflexe auf der zitternden Waffe flackerten nervös, aber konstant, durch den Tränenschleier. Ihre Augen brannten fast so schlimm wie ihr Bauch, die Hitze stieg langsam die Stirn herauf. Sie konnte nicht mehr. Fast sank sie entkräftet zurück, da tat sich endlich was. Die Waffe hob sich etwas, im Hintergrund schwenkte das Ohr weg. Durch dickes Wasser sah sie endlich zwei Augen, auf die sie schon solange warten musste. Die flackernden Metall-Reflexe senkten sich, verblassten. Die Augen schwebten in die Dunkelheit zurück. Noch zweimal leuchtete das Metall wieder auf, fern und noch ferner. Ihr Arm hatte sich taub hingestreckt. Der Hinterkopf pflegte jetzt den kalten Beton. Im Augenwinkel nahm sie wage den Reflex war, wie er langsam um sie herumzuschweben schien.

Der schon wohlverplante Zorn wieder in Taubheit verflossen, senkte er die Waffe. Er hatte den Armageddon verspielt. Ein Schritt zurück. Die Waffe noch mal gehoben. Wie bei der Übung. Blick übers Visier. Doch der Hintergrund ließ ihn die Waffe wieder senken. Noch ein Schritt zurück. Waffe hoch. Noch mal ohne Blick. Nichts. Der Zeigefinger war jetzt wie tot. Sein Arm sank wieder. Die ganze Hand war kalt und nass. Wie erfroren. Kein "Waffe im festen Griff", es gab keine Verbindung mehr. Er konnte sich nur mühsam beherrschen, den Metallklumpen nicht entgleiten zu lassen. Doch er musste vorbei; vorbei an dem Gesicht. Selbst um nach Hause zu kommen. musste er vorbei. Er versuchte, den Abstand zumindest konstant zu halten. Langsam lief er auf einer Kreisbahn mit ihr als Mittelpunkt auf den Wegesrand zu. Da war ein kleiner Graben. Und abdruckgieriger Matsch. Er hielt sich an die Wegkante. Er sah nur beiläufig den hingestreckten Arm. Die Hand. Sie schien nach ihm zu Greifen! Ihr plötzliches "He!" dazu jagte ihm jäh einen gehörigen Schrecken ein. Er erstarrte. Gleichzeitig wurde es damit völlig klar: Er konnte nicht einfach weitergehen! "Hilf.’ doch" hörte er sie sagen. Jetzt sah er hin. "Ich will noch nicht abkratzen." sagte sie ihm leise, aber bestimmt ins Gesicht. Er trat einen Schritt heran, der fiel leicht; es war entschieden: Er war kein Killer mehr. Er kniete vor sie. Ihre Worte hatten das Verhältnis gelöst; nun war es eine Unterhaltung. Er stieg leicht ein: "Tut mit leid." Er senkte seinen Blick von ihrem Augen auf den Boden, sie schüttelte sich und stöhnte. "Das kann ich nicht.", sprach er leise konzentriert weiter, "Dann währe doch alles umsonst." "Außerdem," ergänzte er sicher, "wüsste ich gar nicht was ich noch tun könnte." Er betrachtete die Umgebung kurz aber aufmerksam, die Luft war immer noch rein. Eine perfekte Stelle eben. "N’ Handy hab ich auch nicht." sagte er, ohne dass er lügen musste, stand auf, blickte auf sie herab. Er hatte nun den immer noch geöffneten Rucksack in der Linken, und seilte die Pistole von der gemarterten Rechten hinein ab. Richtig verpacken würde er sie zu Hause. Die schweißnasse Hand patschte kurz auf seine rechte Hüfte, ja, die Hülsen waren da in der Tasche. Gut. "Ich muss jetzt nach Hause. Hier kann ich ja nicht bleiben. Tschüss." Er sah noch mal abschließend ganz an ihr entlang. dann beschleunigte er, eilte den Weg herunter.

Das Glänzen war alles was sie sah. Es war dass, worauf sie sich konzentrierte. Als es näher zu kommen schien, streckte sie die Hand danach aus. Zumindest fühlte sie es so, der Arm lag sowieso kalt und taub in der Landschaft. "He!", rief sie nach dem Licht. Anstrengend. Aber es gab eine Reaktion. Das Glänzen hielt abrupt an. Schmerz. Bitte, bitte, dachte sie, irgendwas ungewisses, positives erwatend. Das Glänzen kam näher! Oh ja!, dachte sie. Wage sah sie verwaschene Konturen gegen die Dunkelheit. Rasch projizierte sie eine Person hinein. Einen Ansprechpartner. Einen Retter. "Hilf’ doch!", manifestierte sie dass. Sie lokalisierte sein Gesicht aus dem Brei der Schatten, jetzt fiel etwas fernes Licht konturgebend darauf, bemerkte, dass der Mann sie ansah. Ja. Da waren Augen. Sie sah direkt hinein. Unscharf stechend. Langsam schien ihre Sicht wieder zu klaren? Schmerz. Er erinnerte sie an ihr Anliegen, es vorzubringen: "Ich will noch nicht abkratzen." Und er hatte verstanden! Er trat noch näher... Er ging in die Knie, machte es ihr leichter. Jetzt konnte das positive kommen. Schmerzen. "Es tut mir leid." Klar, Junge; dachte sie, weiter im Text, schnell. Sie machte automatisch einen Ausdruck von Aufmerksamkeit, bemerkte dass, sehr gut, belohn ihn. Schmerz. Es schüttelte sie. Schneller. Er wendete den Blick ab gen Boden Nein! Was soll dass? "Dass kann ich nicht." Was? Leere Unterhaltung. Schneller, Mann. Schmerz. Schneller. Er laberte so einen Scheiß... und sie lag da, und dachte, sie würde abkratzen! Schmerz. Muss ich noch was sagen? Schneller. Dann war es vorbei; doch die Wendung blieb aus. Die Füße drehten sich knirschend durch den Split. Halt! Knirsch. Schritte, davon. "Oh nein." hörte sie sich erschreckt, aber leise sagen. "Oh nein.", der Kopf im Nacken, die Augen verkrampft durch ihre Wimpern blickend, sah sie seine Silhouette langsam vor den Lichtern der Stadt verschwimmen: Kann ich nicht. Handy nicht.

In der Bahn kam es zurück, wie an den Tagen davor auch. Diesmal nutze er das aus, versuchte eine Analyse. Vor allem die letzten Minuten waren wichtig! Er hatte alles wieder dabei. Pistole, Hülsen. Und sie sah doch echt kaputt aus, wie sie da lag; ziemlich fertig. Ganz weißes, nasses Gesicht. Er hoffte, dass ihre Todesangst gerechtfertigt war. Aber da war er ziemlich sicher. Soviel Blut hatte er auch noch nie gesehen; und seine Schuhe hatten nichts davon abbekommen, stellte er prüfend fest. Er erinnerte sich an die anfängliche Euphorie am Tag davor, die war jetzt nicht da, aber erfolgreich war er wohl dennoch. Der Rest der Fahrt war weniger angenehm, im Takt der Stationen kamen weitere visuelle Erinnerungen zurück, gepaart mit der Frage, ob sie jetzt im Moment noch leben würde, und wie sie zu leiden hätte. Aber mit der Zeit wuchs die Zuversicht, das es nun zuende währe, und er konnte nachts sehr gut schlafen.
Tags darauf saß er in dem Schnellzug gen seinem Studienort, an dem ihn die Tagesschau, so erwartungsgemäß wie auch erhofft, mit Aufmerksamkeit verschonen sollte (es gab Krieg, wichtigere Dinge) und schenkte seine ganze Aufmerksamkeit dem Lernen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, diesem Mist ungeteilte Aufmerksamkeit geben zu dürfen.
©Paul Geisler 2002